Die süße Ferne doch so nah?
Eines ruhigen bedeckten Sonntags, den 24. Oktober, ertönten an der Elevatorenstraße plötzlich fröhliche Kinder-Stimmen. Die Jungs, lebhaft untereinander plaudernd, waren gerade mit Begeisterung dabei, einen Metallzaun vollzuzeichnen mit bunten Kreidevisionen ihrer Straße — genauer, mit ihre Wunschbildern zu “Meinem Haus, meiner Straße.” Von der bevorstehenden Aktion wußten sie bereits Tage im Voraus Bescheid, und zogen ans Werk, nicht ohne davor zuhause bereits ganze Alben vollskizziert zu haben mit ihren Projekten. Nun aber war der Tag gekommen, und ein Metallzaun des Hauses №4, vom netten Onkel Tolja Kolesow zur Verfügung gestellt, verwandelte sich im nu in eine echte Kunstausstellung.
An- und eingeführt wurden die Kinder von Frau Anna Mamaewa, einer Mitarbeiterin der Architekturabteilung der Insterburger Stadtverwaltung. Sie erzählte ihnen vom deutschen Architekten Hans Scharoun, der ihre Straße im fernen 1920 baute, zeigte ihnen Bilder aus deutschen Archiven… Damals gaben die leuchtenden Fassadenfarben der Straße den Namen der “Bunten Reihe”.
Mit Schwung und Elan flogen ihnen die bunten Häuser mit blühenden Vorgärten aus dem Handgelenk, ganze Promenaden adretter Bäume, Bürgersteig-Mosaiken, Radstände und vor allem Spielplätze: für Volleyball und Fußball, zum Schaukeln und Karussell-Drehen. Sie werden wohl am stärksten vermißt. Nun aber nahm man sie in Kreide vorweg: ob Groß oder Klein, im Arbeitseifer waren sie eins, und jeder half dem anderen, jeder gab sein Bestes — ob der älteste, der dreizehnjährige Sascha Lupandin, ob der jüngste, der fünfjährige Dima Schestakow. Eine überaus eigene Sicht zur Zukunft seiner Straße hatten Daniel Kostylew und Nikita Jarosch; leuchtende Visionen warfen Radmir Rajswitsch und Anton Gratschow auf ihre improvisierte Leinwände… Wer weiß, vielleicht wird einer von ihnen einmal tatsächlich Architekt werden?
Anna Mamaewa, selbst in diesen Trubel mitgerissen, schug den Kindern vor, einen Sonntagsklub junger Architekten zu gründen, um die Geschichte der Stadt und ihre Architektur besser kennenzulernen, um zu lernen, mit der Geschichte umzugehen und sie zu pflegen. Schade nur, daß es der guten Idee momentan schlichweg am Raum fehle. So wurde der Abschluß der Malaktion an keinem anderen Ort als dem Hauseingang der №6 begangen. Die Kinder spielten “Kenne ich meine Straße?” und die Vorsitzende der Hauseigentümergenossenschaft, Frau Olga Sidorenko, ließ den Gewinnern Preise und allen Kreativen den Bewohnerdank aussprechen. Sascha Lupandin las aus einem Gedicht über Iwan Danilowitsch Tschernjachowskij und präsentierte sein Aufsatz zum Lebensweg eines Heldengenerals… bis tief in den Abend wollte sich die Tür in die Wohnung von Frau Sidorenko nicht schließen: die Kinder kamen wieder und wieder, brachten ihre Zeichnungen und Ideen.
Fürs kommende Wochenende sind nun alle Kinder der Elevatorenstraße auf ein Treffen mit der Insterburger Burgfee eingeladen: auf sie warte ein Rundgang durch die Burgruine und eine Ausstellung ihrer eigenen Arbeiten.
Als die Kinder sich ins Malen vertieften, gab es auch für die Eltern etwas: einen ersten Tätigkeitsbericht vom ersten Monat der frischgegründeten Hauseigentümer-Genossenschaft “Bunte Reihe”. Man fühlte die staatlich besiegelten Gründungsurkunden und die Pläne zur Wiederherstellung der Siedlung in alter Buntheit auf den Zahn. Dazu ließ die Stadtgemeinde am Hause №4 Großtafeln mit dem Rekonstruktionsvorschlag anbringen, den die Kasaner Architekturstudenten erdacht. Diese hatten in der Stadt ihre Sommerpraktika.
Seit dem 18. Januar 2010 hat die Elevatorenstraße auch formell einen Denkmalrang. Aus den letzten Tagen hingegen ist die Meldung, in der Berliner Baukammer keime der Gedanke, vom Vorsitzenden des Denkmalpflege-Ausschusses Wilfried Wolff angeregt, “einen Kuratorium der Bunten Reihe ins Leben zu rufen, um die Arbeiten an der Straße zu unterstützen.” Die Mitglieder der Baukammer haben nämlich überaus reiche Erfahrung an der Ertüchtigung der Architekturdenkmäler, sei es Dämmung oder ähnliches.
Große Erfolge, wie die Berliner sie bereits feiern dürften, sind hier noch ein Lied der kommenden Tage, doch auch jetzt schon, möge es vom Himmel noch so nieseln, grüße einen die Straße mit fröhlichen Kinderbildern. Da strahlen uns die bunten Häuser und nicht weniger als sechs Sonnen entgegen!
Vorsitzende der Hauseigentümer-Genossenschaft «Bunte Reihe»
Olga Sidorenko
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