Zur bunten Taut-Fahne
Im Jahre 1912 legte der Berliner Bau- und Sparverein im fernen südöstlichen Vortort den Grundstein für eine Gartenstadtsiedlung, die an die 7000 seiner Mitglieder ein Dach über dem Kopf und Selbstversorgung sichern sollte. Gebaut wurde nur ein Bruchteil dessen, und doch etwas ganz Großes: Zuhause statt bloßer Behausung, neues Leben und nicht zuletzt neue Architektur ungeschmückter farbiger Wände — die “Tuschkastensiedlung” in Berlin-Falkenberg ist vorbildhaft als ein Beispiel gesellschaftlichen Wohnens und ein gebautes Manifest des Bunten Bauens, zu dem ihr Autor, der Architekt Bruno Taut, erst im Revolutionsjahr 1919 aufrief.
Führwahr eine Revolution — tretet ein, spart und legt zusammen, und baut gemeinsam ein Haus, wo ihr Eigentümer, Mieter und Mitmenschen sein werdet, zusammengefaßt: werdet Genossen(schaftler). Auch heute ist die Siedlung und die Siedler dieser Verfassung treu; zum Fest wird auch Mal die bunte Tautfahne herausgeholt.
Wahrlich vertraut — dem einen aus der Wohnungsbaukooperative sowjetischer Prägung, dem anderen aus der Maxime Schulze-Delitzsch’, dem dritten aus der Naturbeobachtung an den Stadträndern Insterburgs. Mit den Berliner Vororten verbindet sie ein bunter Bogen.
Zu Berlin: Gartenstadt Falkkenberg — “Tuschkastensiedlung” |
Zu Insterburg: Siedlung “Kamswykus” — “Bunte Reihe” |
Gartenstadtweg №№15—99; Am Falkenberg №№118—120; Akazienhof№№1—26 |
Elevatorenstr. №№2—18, Gagarinstr. №№(38)40 |
Architekten: Bruno Taut, Heinrich Tessenow; Gartenarchitekt Ludwig Lesser | Architekt Hans Scharoun |
1913—15 | 1921—24 |
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Bei so vielen Übereinstimmungen der Gestalt und der inneren Verfassung ist es nicht verwunderlich, daß beim “insterJAHR”-Kolloquium-2010 der Vortrag Winfried Brennes, des Restaurators der Tuschkastensiedlung, auf besonders offene Ohren stieß, und auch daß die erste Auslandsreise der “insterJAHR”-Vertreter nach Berlin führen müßte: man wollte persönlich in Augenschein nehmen, wie man dort so mustergültig die Aufgaben löste, an den Häusern, den Gärten und den Straßen auch.
Vom Krieg blieb die Siedlung verschont.
Von der vergesellschaftlichung des Eigentums in der DDR auch, denn es war bereits eine Genossenschaft: die Häuser litten unter der Mangelwirtschaft auf dieselbe Weise, wie alle andere Häuser auch. Den Bewohnern war es selbst überlassen, sich um ihre Häuser zu kümmern — oder eben nicht. Die Einfamilienhäuser kamen so besser durch, die größeren verfielen hingegen und drohten einzustürzen.
Die Wiedervereinigung brachte die Tuschlastensiedlung zurück in den Genossenschaftsverband, seit 1992 war man dran, die Rückführung der Häuser an ihren Urzustand vorzubereiten. Die Zeit drängte: der Überfülle in den Baumärkten umwarb die neuen Bundesländer und war gerade dabei, die originale Fenster- oder Türsubstanz fortzutragen, auf daß die Plasteatrappen ihren Platz einnähmen. Käme dies, wäre es mehr als bloße Verschwendung: statt nach neuzeitiger Schminke schrieen die Häuser nach einer umfassenden und behütsamen Kür, nach voller Berücksichtigung ihrer einstigen Art und jetzigen Zustandes. Allein schon die Frage nach den Mieteraus- und Anbauten war schon komplex genug — manche von ihnen standen bereits seit Jahrzehnten, wie soll denen nun die Daseinsberechtigung abgesprochen werden?
Einzig durchs viele Erklären.
Wieder und wieder gingen der Genossenschaftsvorsitzende Hermann und der Architekt Brenne an die Bewohner heran, erklärten — umstimmten — umwarben bald schon jeden einzeln: im Rückblick auf den Sanierungsjahrzehnt sprechen sie übereinstimmend von der “Mund-zu-Mund-Beatmung”. Hilfreich war es, daß noch so mancher Urbewohner vom einstigen Leben in den bunten Häusern schwärmte, daß man an die Genossenschafts-Aktivitäten wieder anknüpfen konnte, daß der Sohn Bruno Tauts noch berichten konnte von den Ansinnen des Siedlungsarchitekten, daß die Genossenschaft, ihren Wurzeln treu, die Wiederherstellung der Häuser als eine Selbstverpflichtung ansah den Altgenossen gegenüber, die für diese Siedlung ansparten… Nichtsdestotrotz zermürbte das Leben auf der Baustelle auch den standhaftesten spätestens nach der vierten Woche!
Leichter ward es mit der Fertigstellung des ersten Hauses, und nachher ging es gleich in Abschnitten, in ganzen Häusergruppen — Schlag auf Schlag.
Ein Liebhaber- und Versuchsobjekt zu den Kosten, die rein wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen sind: etwa 80000,- € je 60—140 m2-Wohnung.
Doch nun sind alle die hier wohnen zu Liebhabern geworden!
Seit dem 2010-Kolloquium bekannt, begrüßten im Akazienhof der Architekt und Restaurator Winfried Brenne mit dem “Baunetz”-Redakteur Bededikt Hotze, zusammen mit Hans-Jürgen Hermann, dem Vorsitzenden der Stiftung “Weltkulturerbe Gartenstadt Falkenberg und Schillerpark-Siedlung der Berliner Moderne” die anreisenden Frau Larissa Koptzewa (Provinzialdenkmalamt Königsberg), Frau Natalia Kunitzkaja (Universität St.Petersburg), Frau Anna Mamajewa (Stadtverwaltung Insterburg), Herrn Alexej Oglesnew (Burgstifung Insterburg/”insterJAHR”), Frau Olga Sidorenko (“Bunte Reihe”) und Herrn Dimitri Suchin (“insterJAHR”). Beim Gang durch die Siedlung wurden die Arbeiten an den Häusern exemplarisch besprochen.
Zusammen mit den Häusern wurden auch die Leitungen unter den Straßen erneuert, wo dies im einzelnen nötig war, und auch die Straßengestaltung in den entsprechenden Zustand versetzt. Parken in den Vorgärten, ein immer wieder vorgebrachtes Problem, sei hier untersagt, denn nicht nur die Häuser — auch die Vorgärten seien hier geschützt, und auch die Nutzgärten mit ihren Hühnerställen. Zudem gebe es in der selben Straße einen Garagenhof auf Duldung: solange die Genossenschaft nicht zum anvisierten Bau eines Informationspavillons tritt, stellen die Mieter ihre Wagen dort ab.
Einen Neu- und Umbau gebe es in der Siedlung auch: ein Büroblock am Siedlungsand kaufte die Genossenschaft auf um zu verhindern, daß dort ein Abschiebe- und Asylantenheim entstehe. Heute finden sich Wohnungen, Arztpraxen und ein Versammlungsraum des Siedlungsausschüsses darin. An seiner Pforte begrüßte die Anwesenden sein Vorsitzender, Herr Max Rasokat. Wie sein Name bereits ahnen ließ, war dieser Ur-Tuschkastener von der pillkallener Abstammung und wurde gleich zum Besuch eingeladen.
Kurz vor dem Sonnenuntergang gelang des der Gruppe noch, eine weitere Tautsiedlung zu besuchen, die Hufeisensiedlung aus 1925—1933.
Ein Jahrzehnt trenne sie nur von der Tuschkastensiedlung, und bunt ist auch diese, doch ist sie ein Kind ganz anderer Welt: viel flächiger und großmaßstäblicher in allem — 600 Wohnungen und 472 Einfamilienhäuser faßt sie zusammen. Dennoch sind die Analogien zur “Bunten Reihe” auch hier unverkennbar, z.B. an den Treppenaufgängen an der Kamswyker Allee und der Lowise-Reuter-Straße.
In den letzten Jahren ist die Siedlung in großen Teilen an die Bewohner veräußert worden, was die Arbeit des Denkmalamtes ungemein erschwere: statt der einen Wohnungsbaugesellschaft steht man jetzt hunderten der Einzelparteien gegenüber. Abhilfe versprechen da die Denkmalpflegepläne und eine Netzwerkdatenbank der Typenlösungen, die neuerdings im Rahmen der Siedlungssanierung zusammengestellt wird. Die Mittel dazu brachte ein Sonderprogramm für die deutschen Welterbestätten.
Beim Gang durch die Siedlung kam überraschend zutage, daß eine ähnliche Datenbank im königsberger Denkmalamte schon existiere — allerdings nur für den stillen internen Gebrauch.
Warum nur überlasse man das In-die-Welt-Hinausposaunen den anderen?!
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