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Konferenz der Bauuniversität Kasan

Von: 12inster_admin34534

Alljährlich veranstaltet der Lehrstuhl für Restaurierung und Erneuerung des Architekturdenkmäler an der Bauuniversität Kasan eine Forschungskonferenz; diesmalig fand sie am 11. April statt. Die Studenten, die Absolventen und Doktoranden berichteten von den seit der letzten Konferenz erfolgten Arbeiten im Denkmalschutz, der Landschaftspflege, der Begleitforschungen bei den Diplomarbeiten, worunter auch der Beitrag von Marie Baschina und Gusel Garipowa zu der «Vergleichsanalyse der Arbeitersiedlungen der 1920er» sich wiederfand. Die Erhaltung, Entwicklung und Weiternutzung derartiger Anlagen erörterten die beiden anhand der insterburger «Bunten Reihe», wo die Kasaner Studenten 2010 ihre Sommerpraktika absolvierten, des kasaner «Oktoberstädtchens» (heute eine Artillerieschule) und der Siedlung Bondüga in der Stadt Mendeleewsk.

Dem Vortrag wurde eine allseitige Aufmerksamkeit zuteil, was auch die nachfolgenden Debatten der Zuhörerschaft unterstrich — die Themen sind heute längst im Mittelpunkt der Planerarbeit angekommen. Nachfolgend sind sie für die “insterJAHR”-Leser aufbereitet.
Maria Baschina und Gusel Garipowa danken für die Hilfe bei der Erstellung dieser Arbeit Frau S.G.Persowa, Frau L.Sch.Sajfullina, Herrn W.N.Solowjöw und Herrn D.B.Suchin.


Die Gründerzeit stellte die Planer vor neuen Aufgaben — die Städte wuchsen rapide, neue Werke schossen wie die Pilze aus dem Boden und zogen immer weitere Bevölkerungsmassen an, die alle irgendwo untergebracht werden wollten.
Die tradierten Stadt-Land-Verhältnisse gerieten zur Jahrhundertwende aus den Wogen, was ihre einschlagende Wirkung auf die Architektur nicht verfehlte: die Stadtentwicklung folgte der Industrieproduktion, die letztere setzte der ersteren ihr Stempel auf, sowohl im Plan als auch in der Art und der Bevölkerungszusammensetzung, folglich in der Bautypologie und Gebäudeanordnung.
Schnelles Städtewachsen führte in Europa allenorts zum ungeordnetem Wildwuchs, der regulative Einfluß der Stadtoberen sank im gleichen Maße und letztendlich überwogen die negativen Auswirkungen der ungehemmten Technikentwicklung auf das Stadtleben bei weitem die Gewinne aus ihr. Eine wohnungswirtschaftlichen und ökologische Lösung versprach ein neuer Siedlungstypus für die Vororte — die Arbeitersiedlungen. Anhand der ostpreußischen (Insterburg) und tatarischen (Kasan, Mendeleewsk) Beispiele wird ein Vergleich dieser Bausubstanz der 1920er Jahre angestrebt.

In vielerlei Feldern waren zu Anfang des 20. Jahrhunderts Entwicklungen Rußland und Deutschland gleichauf, inklusive der Absonderungen. So war die Weimarer Republik ab 1919 vom Forschungs- und Kulturleben des Westens ausgeschlossen, während Sowjetrußland under Völkerbundbann stand, gleichfalls isoliert. Dies trieb die beiden Länder einander in die Hände, vor allem im Forschungs- und Kulturbereich, um die Blockade beider Länder geistig aufzubrechen. Die Architektur war alldem ein Spiegel: der engen Zusammenarbeit deutscher und sowjetrussischer Architekten, den Treffen und Debatten, den Konferenzen und Beratungen, auch und gerade im Massenwohnungsbau.

Erst zögerlich unmittelbar nach dem Weltkriege, nahm dieser neue Städtebau immer mehr am Schwung an. Beide Länder strebten nach neuen sozial(istisch)en Städten.

In der Auseinandersetzung ob der künftigen Wege der Architekturentwicklung formten sich ganz Schulen und Theorien. Im Siedlungsbau gab es zu den 1920er Jahren ihrer zwei: die Urbanisten und Disurbanisten.
Die Urbanisten hielten die dichtwachsende Stadt für die enzig zukunftsweisende Siedlungsform.
Sozialstädte sollten nach ihnen aus einem System weitestgehend autonomer mehrgeschossiger Stadtkerne bestehen. Die Familie als Gesellschaftszelle sahen sie durch die Gemeinschaft abgelöst, sodaß die eigene Wohnung kaum mehr als ein Schlafraum sein müßte — alles Heimarbeit sollte verstaatlicht werden und durch den Staat war auch die gesamte Sozialinfrastruktur zu beschaffen, von den Kantinen bis zu den Kindergärten.
In diesem Geiste entstand die neue Wohnform der Kommunehäuser.
Die Disurbanisten hingegen verneinten dies und sahen eine stadtlose Gesellschaft der unberührten Naturlandschaften kommen, von Verkehrsachsen durchmessen, von den autogerechten Wohnsiedlungen zu den Dienstleistungsknoten hin. Auch die Häuser dieser Siedlungen wären autegerecht und zerlegbar, von Ort zu Ort verfahrbar. Solche Siedlungstypik der gleichmäßig in die Landschaft gestreuten “Landstädte” sollte jeden Stadt-Land-Konflikt beseitigen können.

Eine sozialistische Arbeitersiedlung leistet durch den im Staats- oder Betriebsbesitz des Bodens und der Häuser, ferner durch die amtliche Verteilung und Verfügung über sie eine ihrer wesentlichen Funktionen: die Bindung der Belegschaft. Für die Geschlossenheit der Bewohnerreihen wird auch gesorgt: wohnbefugt sind in einer solchen sozialistischen Arbeitersiedlung nur jene vom in Frage kommenden Betrieb; “grundloses Wohnen” ist darin untersagt. Dies wird noch weiter untermauert durch das Paß- und Anmeldewesen, die Arbeitsbücher, die Verteilungseinrichtungen usw.: sozialistische Arbeitersiedlungen sollten kompakte Wohngruppen im Anschluß an die Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe sein.

Insterburg, Blick in die Bunte Reihe

Mendeleewsk, Blick in die Leninstraße


Sozialstädte genossen zeitens des ersten Fünfjahresplanes eine weite Verbreitung; man erarbeitete Konzepte für typisierte Kommune-Vierteln, Industrie- und Arbeitersiedlungen, größere Wohnbezirke und Wohnkomplexe.
Laut einem 1930-Beschluß sollten die im Bau befindlichen Großbetriebe mit solchen “Zukunftsvierteln” ausgestattet werden: so kam neben allen anderen wachsenden Industriekernen vom Rang auch die bis dahin provinzielle Stadt Kasan in den Genuß neuer sozialistischer Stadträume.
Bereits im vorausgegangenen Jahrzehnt entwickelte Sowjetrußland prototypische Arbeitersiedlungen und Kommunehäuser, die in der neuen Entwicklung aufgingen. Stets war den Wohnkomplexen auch eine öffentliche oder Versorgungskomponente beigegliedert, als Handel (Läden, Cafés, Restaurants, Imbisse), Kultur (Kinos, Klubs, Bibliotheken) oder Sport (Turn- und Schwimmhallen). Diese belegten in der Regel den Erdgeschoß und auch den ersten Obergeschoß.

An den Bauten des 20. Jahrhunderts läßt sich dieses Konzept klar ablesen, so an den gut erhaltenen 1930er Bauten an der Pawlüchin-Esperanto Straße und der Sozgorod-Siedlung; in der Stadt Nabereschnyje Tschelny ist die ganze Bebauung in solche Wohnkombinate unterteilt.
Wir sehen sie heute dort noch unverfälscht, wo sie einem bestimmten Wirtschaftszweige oder dem Militär gehörten, wo die Nutzung und Versorgung sichergestellt, und der Zugang beschränkt waren. Als noch die verantwortlichen Betriebe jeden Mieter rückverfolgten und sich um die Häuser kümmerten, gab es weder Schwarz-, noch Wildbau… ab dem Übergang der Häuser in den jeweiligen städtischen Besitz öffneten sich hierfür Tür und Tor.
Auch heute noch bleibt die Einrichtung kleinerer geschlossener betriebsbezogener Siedlungsverbände für Rußland von Belang, was wohl mit der allgemeinen Wohnungsnot begründet liege. So ist auch das kasaner “Universiade-Dorf” nichts anderes als eine moderne Version einer Sozstadt(Wohnort für Sportler und Delegationsleiter der Universitäten-Sportwettkämpfe 2013, mit Einzel-, Doppel- und Dreier-Zimmern mit allem Komfort und Versorgung), oder auch die Eishockey-Trainingsgründe des Klubs «Ak Bars»(Sportlerwohnungen mit Versorgung, Sport- und Vergnügungsstätten, Ärtzepraxen, Restaurants und Kindergärten). In Deutschland hingegen sind solche “Betriebssiedlungen” nicht besonderes gefragt, der Ghettoisierung wegen und weil sie die Bewohner immobilisieren.
Diejenigen russischen Arbeitersiedlungen, die noch oder näherungsweise im Urzustand verbleiben, sind durchgehend in einer Hand geblieben, ob des Betriebes, Verbandes oder eines Amtes; ihre europäischen Artgenossen sind hingegen meist an die Immobilienfonds oder die Bewohnerschaft veräußert. Ihr Schutz wird dort durch entsprechende Statute und Verpflichtungen sichergestellt: in der “Tuschkastensiedlung“, dem berliner Widerpart der “Bunten Reihe” legen die Regeln unzweideutig fest, daß die Bewohner weder die Hausvolumina, noch die Hausfarbe, die Fensterrahmen oder die Haupttragkonstruktionen eigenmächtig veränbdern dürfen — darunter fallen auch die Staketenzäune und die Pergolen! Für die vorschrifsgemäße Pflege des eigenen Hausdenkmals kann man hingegen Kosten absetzen: die Denkmalerhaltung durch Jurisprudenz. Russische Erfahrung lehrt dagegen, die Bewohner gar nicht erst der Versuchung auszusetzen, an seinem Denkmale etwas zu machen — und ihn folglich auch nicht mit dem Besitz seines Denkmales zu belasten.

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