Zur Findung des neuen Stils, des eigenen Selbst des nördlichen Ostpreußens
Die Chroniken Ostpreußens sind reich an Neuanfängen und herben Einschlägen: vielfach besiedelt und vielversprechend aufgebaut, war die Gegend genauso oft verwüstet worden, doch stets haben neue Wurzeln und Triebe aus dem alten Stamm geschlagen. Bis zuletzt zeigt das Gebiet einen deutlichen Einfluss des deutschen Städtebaus des 14. Jahrhunderts: vom Deutschen Orden ins Land gebracht, von den Herzögen und Königen neu aufgefaßt, zuletzt in der Interpretation eines Camillo Sitte oder Hermann Muthesius, sowie vieler späterhin bekannter deutscher Architekten des 20. Jahrhunderts. Neues aus Altem zu entwickeln kann wohl als modus operandiostpreußischen Bauens angesehen werden.
In ihre Nachfolgerschaft hätte die Sowjetunion treten können, die im nahen Minsk ihre Städtebau-Triumphe feierte, doch blieb sie hier sehr halbherzig: vieles wurde abgerissen, aber doch nicht alles; etliches wurde erbaut, aber nicht so, dass es zu einer neuen Eigenart des Gebietes wurde. Dazu kam noch, dass die Geschichte vor 1945 schlichtweg ausgeblendet oder nur mit tiefschwarzer Farbe gemalt wurde. Dies ist glücklicherweise nun vorüber und diese Periode — mit ihren Eigenarten — auch schon wieder Geschichte.
Die Städte, mit wertvollen Baudenkmälern der Ordenszeit oder auch der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts ausgestattet (zuweilen in einer Fülle und Originalität, die in Deutschland bereits verloren ging), mit neuesten Generalbebauungsplänen versehen und von interessierten Bürgern bewohnt, wissen nicht, wie man Vergangenes und Neues miteinander verknüpfe. Das städtische Gewebe ist vielfach dermaßen aufgerissen, daß man daraus unmöglich einen neuen Maßanzug schneidern konnte.
Dazu bedarf es allerdings vieler Kenntnisse: der Maße, des Tuches, des Anlasses und dergleichen mehr.
Leicht wäre es, Utopien zu erträumen, doch die Provinz bedürfe Handfestes. Weltfremde Postulate, archäologische Kernforschungen und Versuche, anhand einiger ästhetisierter Zufallsfunde einen Heimatstil herauszudestillieren – sie alle können nur zu schnell erlahmende Fesseln werden. Erfolgversprechend ist hingegen eine Gestaltfindung, die auf Verstand, Befund und tatsächlichen Fertigkeiten der Menschen vor Ort basiere.
Um diesen Erkenntnisprozeß voranzutreiben, plane die Stadt Insterburg-Tschernjachowsk für dieses Jahr die Veranstaltungsreihe „insterJAHR 2010“; ihr Programm reiche von baulichen Einsätzen und architektonischen Entwurfsveranstaltungen, von restauratorischen und heimatkundlichen Begegnungen, von theatralischen und musikalischen Projekten und vielem weiteren mehr:
- Den Einwohnern sollte die Angst vor ihrem bewohnten Denkmal genommen werden, sie werden in die Geschichtsfindung und -schreibung des Ortes mit einbezogen. Eine gebäudebezogene Bestandsdokumentation soll ihre Geschichten sammeln und die Häuserschäden und Befindlichkeiten erstmalig erfassen. Die entsprechenden Berichte werden unter Hausbiografien zu finden sein.
- Not- und Lehrwerkstätten werden gegründet, wo die örtlichen Bauhandwerker in den entsprechenden neu-alten Techniken geschult werden. Ausgewählte Pilotobjekte werden ihr Schulungsfeld sein. Als Lehrer werden neben den eigenen Kräften die Fachleute Deutschlands und Polens eingeladen. Die Berichte hierzu finden Sie unter Lehrwerkstätten.
- Lokale und internationale Fachplaner werden in einem Kolloquium ihre Erfahrungen zum Bauen im Bestand erläutern. Sie widmen sich der Untersuchung und der Erneuerung von Altbauten, mit dem Schwerpunkt auf Milieuschutz und den jungen Altbauten aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, von denen die Gegend besonders viele aufweise. Der Stadt werden neue Wege aufgezeigt und weitere Untersuchungsschwerpunkte bestimmt. Ausstellungen der verschiedenen Einsatzwege und Vorträge zu den jeweiligen Werkserfahrungen der Kolloquiumsteilnehmer tragen das gesammelte Wissen in die Öffentlichkeit – auch im Kapitel Kolloquium einzusehen.
- Architekturstudenten und Landschaftsarchitekturstudenten werden in die Stadt geholt, um am Objekt ihre Baustellenpraktika abzuleisten: Aufmaß, Schadenskartierung, etc. Eine enge Zusammenarbeit der Praktikanten mit den Werkstättlern verstärkt den gegenseitigen Lerneffekt, wie unter sommerliche Praxisseminare zu lesen ist. Machen Sie mit!
- Auf der Burg werde in ein Burgkunstfest abgehalten, mit der Kunstresidenz „AtmosphärA“, verschiedenen Sonderprojekten, Konzerten und überregionaler Zusammenarbeit. Bereits in den vergangenen Jahren haben solche Veranstaltungen in der Stadt einen bleibenden Eindruck hinterlassen können: lesen Sie unter Insterfest von gestern, heute und morgen des Kunstfestivals.
- Ein regionales Treffen junger Architekten (SESAM) aus allen mit Ostpreußen verbundenen Ländern trete in die Fußstapfen der Wiederaufbau-Bauanwälte von 1915. Während die vorerwähnten Studenten rein technisch tätig werden sollten, werden diese Stegreif-Entwürfe abliefern und eventuell auch bauen. Vorträge zum ostpreußischen Bauen oder Städtebau sollen ihnen dabei helfen. Die Entwürfe und die Lehrunterlagen finden Sie unter SESAM und Architektentreffen.
- Einen Abschluß finde die diesjährige Reihe beim Stadtfest Anfang September 2010, welches beinahe auf den Tag des offenen Denkmals falle (Stadtfest)
- Zur Auswertung komme das erste insterJAHR während der 10. Jubiläumskonferenz der Heimatkundler auf der Burg (Geschichtskonferenz). Hierbei wird auch die Planung fürs kommende Jahr verkündet.
Die ersten Zusagen liegen bereits von deutschen wie russischen Architekten, Planern, Fachleuten und Studenten vor; weitere Unterstützung und eine Übernahme in eigene Programme ist erwünscht: Schreibt! – Kommt! – Bringt Euch ein! – Macht mit!
Ein Kommentar zum Eintrag “Zur Findung des neuen Stils, des eigenen Selbst des nördlichen Ostpreußens”
Gekürzt veröffentlicht in der Oktoberausgabe des “Insterburger Briefes”, der Zeitschrift der in Krefeld ansässigen Insterburger Kreisgemeinschaft. Im gleichen Zuge brachten sie auch die Liste der Projektbeauftragten heraus.
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